Bilderwolken: Philip Grönings „Phantom Oktoberfest Oktoberfest Phantom“

Das Ausfallen des diesjährigen Oktoberfests ist Anlass für PHANTOM OKTOBERFEST OKTOBERFEST PHANTOM von Philip Gröning – eine Virtual Reality-Installation, die durch Festzelte führt, die von einer künstlichen Intelligenz aus Abertausenden von Fotos rekonstruiert wurden. Passend zum eigentlichen Starttermin der 187. Wiesn konnten wir am 20.09. im Villa Stuck-Garten die Eröffnung feiern.

Der renommierte Medienkünstler und Regisseur Philip Gröning setzt sich in seiner Arbeit mit dem Phantomschmerz einer Stadt auseinander, die sich das Oktoberfest dieses Jahr nur durch Erinnerungen ins Gedächtnis rufen kann. Für die Ausstellung hat er deshalb in den letzten Monaten tausende von Fotos, Videos und Tonspuren auf Social Media-Plattformen gesammelt und daraus mittels einer künstlichen Intelligenz Festzelte nachbauen bzw. nachrechnen lassen. Nach rechnerischen Kriterien wurde eine KI vor die Aufgabe gestellt, aus der Vielzahl der recherchierten Bilder die exakten Räumlichkeiten der Oktoberfestzelte zu rekonstruieren. Aus diesen digitalen Erinnerungsfetzen entstand nun ein Panoptikum der gemeinsamen Nenner, das durch VR-Brillen und Tonspuren erlebbar wird.

Es ist ein düsterer, ruinenartiger Ort geworden, der die Frage aufwirft, welche Erinnerungen durch soziale Medien im kollektiven Gedächtnis verbleiben und welche Blickwinkel außer Acht geraten, weil sie nicht dokumentiert werden. So gibt es zweierlei Sonderbares zu entdecken in den XR-Bild- und Tonwelten von Gröning: Dunkle Ecken, die mangels passendem Medienmaterial Leerstellen bleiben. Und vielleicht noch verstörender: Das Verschwinden der Menschen. Denn durch das Berechnen der statistischen Mitte des umfangreichen Bildmaterials werden die einzelnen Menschen für die künstliche Intelligenz zum Störfaktor, sie verschwimmen deshalb als konkrete Erscheinungen und ergeben eine bizarre organische Mensch-Masse. Oder an anderer Stelle weitere Leerstellen. Mathematisch ist das korrekt, ästhetisch dagegen eher verstörend, wenn das Konkrete im Durchschnitt verschwindet.

„Der Algorithmus hat kein Taktgefühl“, drückt es Kulturreferent Anton Biebl am Samstag Mittag bei einer der Eröffnungsreden pointiert aus. Er hat das Projekt zusammen mit Gröning und Museumsdirektor Michael Buhrs auf den Weg gebracht. Unterstützt wurde die Ausstellung außerdem vom FilmFernsehFonds Bayern (FFF) und dem Bayerischen Staatsministerium für Digitales. Erst im April 2020 gründete der FFF den Förderbereich Extended Realities (XR). Zu den ersten geförderten Projekten gehört nun Philip Grönings immersive VR-360 Grad-Sound-Installation, die das abwesende Oktoberfest erfahrbar macht und ein vielschichtiges Experiment an der Schnittstelle zwischen Kunst und Virtual Reality bildet.

Von Phantomschmerzen ist dabei oft die Rede am Mikrofonpult – die grundlegende Metaphorik der Installation ist schnell einleuchtend. Schließlich gehört das Oktoberfest fest zur DNA der Stadt. Jeder versteht, warum sie dieses Jahr nicht stattfinden kann, die Abwesenheit schmerzt die Wiesn-Freund*innen trotzdem.

An diesem Samstag bei der Eröffnung macht sich also eine eigenartige Diskrepanz bemerkbar. Bei strahlendem Sonnenschein und fassfrischem Bier im Villa Stuck-Garten kommt Freude auf. Fast schon eine Art Wiesnvorfreude. Aber es bleibt bei der Ahnung dessen, was eigentlich passieren hätte sollen an diesem Tag. Während der Garten zu diesem Anlass dank Festbier und – ja – Wiesnwetter zum gemütlichen Verweilen einlädt, wird es unten in den KI-Welten düsterer. Die seltsam ausgeleuchteten Bilderwolken aus den KI-Welten stimmen neugierig aber auch nachdenklich und taugen nicht alleine zur realistischen Simulation. Betreten kann man diese Welt im Zwischengeschoss der Villa Stuck unter der Anweisung von vier Instruktoren in weißen Ganzkörperanzügen – die so genannten „Wächter“ des Phantom-Oktoberfests. Sie gemahnen in ihren Overalls eher an die Pandemie-Gegenwart.

Das theoretische Vorhaben von Philip Gröning, die Aufgabe an die KI, ein Oktoberfestzelt authentisch erlebbar zu machen, muss man wohl als gescheitert ansehen. Ein Scheitern, das aber ganz bewusst zur Methode erklärt wird. Die ruinenartigen Wiesn-Orte der KI, sie mögen mathematischen Kriterien der Exaktheit entsprechen – ästhetisch sind sie eher unheimlich. Und somit das Gegenteil geselliger Bierzelt-Atmosphäre. Das Prosit der Gemütlichkeit, es wird zum Prosit der Unheimlichkeit. Gröning verleiht dem Oktoberfest-Phantomschmerz also vielmehr Ausdruck, als das er ihn lindert.

 


Fotos: Mirja Kofler

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