FENGEL’SCHER BILDATLAS #8 MIT WORTEN VON WILLI WINKLER

Im Jubiläumsjahr hängen wir jeden Montag ein Foto des Münchner Künstlers Martin Fengel in unserer Empfangshalle auf und posten es mit einer textlichen Erklärungswelt verbunden auf unserem Blog sowie auf mucbook. Heute wird es feuilletonistisch: SZ-Kritiker Willi Winkler hat das Wort.

Der Schriftsteller, Übersetzer und Literaturkritiker Willi Winkler hat unter anderem Bücher über die Beatles oder die RAF geschrieben, war Redakteur bei der Zeit, Ressortchef für Kultur beim Spiegel und ist heute bei der Süddeutschen Zeitung. Der berühmte Feuilletonist tut für den Fengel’schen Bildatlas in dieser Woche das, was er am Besten kann: Seine Gedanken in einen Text zu verwandeln.

In den alten Zeiten, wo nicht bloß Könige regierten, sondern sich auch Duodezfürsten ein Schloss leisten konnten, erschien und verschwand der Herr bei Gelegenheit durch die Tapetentür. Der Zugang sollte nicht auf den ersten Blick erkennbar sein, sondern war Teil der Rokoko-Bespannung, die sich über die ganze Wand zog und ein höfisches Motiv zeigte, eine Jagd-, womöglich auch eine Liebesszene, die wiederum idealerweise das abbildete, was der Herr in der Intimität des Zimmers mit der Dorfschönen anstellte. Schloss sich die Tür, konnte er dahinter wieder in den Teil des Schlosses zurückeilen, in dem er sonst als Fürst oder Staatsmann, als Familienvater und Ehemann regierte. Liebender war er nur hier, vor der Tapetentür, die das Geheimnis vor der Gemahlin wie vor dem Gesinde verbarg.

Das Bild zeigt keine Tapetentür, sondern einen wenig schönen rahmengefassten Ausschnitt, der vielleicht einmal ein Fenster war, aber jetzt so verklebt ist, dass sich die Bespannung zur übrigen Wand fügt. Es ist auch keine richtige Tapete, sondern eine Verkleidung hoch oben über der Holzvertäfelung. Sie zeigt als wiederkehrendes Muster eine gebändigte florale Explosion, vielleicht sind es auch stark ornamentierte Fruchtkelche oder überquellende Pokale. Ich denke sie mir aber lieber als vielgestaltige Quallen, die vom Meeresgrund nach oben ans Licht treiben. Der Leuchter an der Decke bestätigt meine Phantasie, aber vor allem ist die Bespannung blau, lichtblau. Im Lateinischen gibt es, abgeleitet von caelum, ein Wort für himmelblau: caeruleus. Die Dichter verwenden das Adjektiv auch für andere Schattierungen von Blau, für meerblau, blauschwarz, blaugrün, aber mir gefällt die Vorstellung, im Himmelblauen der zum Licht strebenden unterseeischen Quallen hätte sich ein Rest der höfischen, wenn auch heimlichen Liebe bewahrt: dass ein Fürst, als er die Bespannung in Auftrag gab, an die himmelblauen Augen seiner Geliebten dachte.
Und die Tür, wohin führt sie? Es ist, könnte man sagen, das Geheimnis der Kunst, das dahinter verborgen liegt.

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Martin Fengel hat anläßlich des Jubiläumsjahres der Villa Stuck in der Empfangshalle eine Fotoausstellung, die wöchentlich um ein Werk ergänzt wird.
Auf mucbook und im Blog der Villa Stuck verraten wir jeden Montag – wenn das neue Bild aufgehängt wird – was sich eine Person dazu dachte. Gerne ist auch jeder Leser des Blogs dazu eingeladen, in der Kommentarzeile frei und ungestüm zu assoziieren. Begleitet wird der Fengel‘sche Bildatlas durch vier Veranstaltungen, allesamt musikalischen Ursprungs, die in enger Zusammenarbeit mit Martin Wöhrl, Bernd Zimmer, dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks und dem Münchner Label GOMMA entstehen.

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