Weihnachten wird gerne als „Fest der Liebe“ bezeichnet. Tatsächlich sind wir in der Weihnachtszeit aber oft gestresst und gehen nicht besonders liebevoll miteinander um. Es schadet also sicher nicht, ein paar besinnlich-philosophische Momente in den Adventstrubel einzustreuen und darüber nachzudenken, was Liebe denn eigentlich ist. Daher haben Anna und Paulus Kaufmann vom Philosophischen Foyer einen Adventskalender zusammengestellt, der täglich ein Zitat, ein Bild und frische Denkanstöße zum Thema „Liebe“ enthält. Nehmen Sie sich also einmal am Tag eine Viertelstunde Zeit zum Nachsinnen und Weiterdenken. Schreiben Sie uns gerne, was Ihnen dabei in den Kopf kommt: Widerspruch, Zustimmung, weitere Fragen, eigene Erfahrungen etc. Wir wünschen Ihnen Frohe Weihnachten!
Türchen 19: Heimsuchung
Wenn übermächtig
das Verlangen mich heimsucht,
wend‘ ich das Gewand
meiner finstern Nächte
von außen nach innen um.
Ono no Komachi: Kokinwakashū, 12:554, übersetzt von Wilhelm Gundert, in: Ders. u.a. (Hrsg.) Lyrik des Ostens: Gedichte der Völker Ostasiens, C. Hanser, 1978
Eine Frau liegt nachts in ihrem Bett und nicht nur die Nacht ist dunkel, sondern auch ihr Gemüt. Schwarz wie die Beeren der Leopardenblume – so erzählt es uns Ono no Komachi, eine japanische Dichterin des neunten Jahrhunderts. Vor lauter Sehnsucht nach dem Geliebten zieht die Frau ihr Gewand aus und dreht es auf die andere Seite. Die Seite, die sonst dem Geliebten zugewandt ist, berührt jetzt ihre Haut. Eine auch für uns berührende Geste. Im alten Japan geht die Geste überdies mit der Vorstellung einher, das Umwenden des Gewandes könne den Geliebten herbeirufen, so dass er uns im Traum erscheint. „Wishful thinking“ – werden vielleicht einige von uns sagen. Aber gehören Irrationalitäten und Beschwörungsversuche nicht wesentlich zur Liebe dazu? Oder sind sie Anzeichen einer unreifen Leidenschaft?