Weihnachten wird gerne als „Fest der Liebe“ bezeichnet. Tatsächlich sind wir in der Weihnachtszeit aber oft gestresst und gehen nicht besonders liebevoll miteinander um. Es schadet also sicher nicht, ein paar besinnlich-philosophische Momente in den Adventstrubel einzustreuen und darüber nachzudenken, was Liebe denn eigentlich ist. Daher haben Anna und Paulus Kaufmann vom Philosophischen Foyer einen Adventskalender zusammengestellt, der täglich ein Zitat, ein Bild und frische Denkanstöße zum Thema „Liebe“ enthält. Nehmen Sie sich also einmal am Tag eine Viertelstunde Zeit zum Nachsinnen und Weiterdenken. Schreiben Sie uns gerne, was Ihnen dabei in den Kopf kommt: Widerspruch, Zustimmung, weitere Fragen, eigene Erfahrungen etc. Wir wünschen Ihnen eine besinnliche Adventszeit!
Türchen 1: Eros
„Oder merkst Du nicht, in welch unheimlichen Zustand alle Tiere sind, wenn sie zeugen wollen, die auf der Erde ebenso wie die Vögel, wie sie alle krank und verliebt sind, zunächst auf ihre Begattung hin, und dann bei der Ernährung der Jungen, und wie sie da bereit sind, für sie zu kämpfen, sogar die Schwächsten gegen die Stärksten, und für sie zu sterben, und wie sie selbst vom Hunger sich quälen lassen, um sie zu ernähren, und sonst alles Mögliche tun.“
(Platon: Symposion; übersetzt von R. Rufener, Artemis & Winkler 1991, S.491 (207a-d))
So wie Diotima – endlich mal eine Frau in Platons Dialogen! – die Liebe hier schildert, wird einem wirklich ein bisschen unheimlich zumute. Die Liebe als geistige Krankheit, die uns und die Tiere erst zur Fortpflanzung verführt und dann zu Übermut und Selbstaufgabe treibt. Gabriel Garcia Márquez schreibt in diesem Sinne über Liebe und andere Dämonen, ebenfalls in der Nachfolge Platons: Eros ist für Platon kein Gott, sondern ein daimon, der weder allmächtig ist wie die Götter, noch sterblich wie die Menschen. Aber nur deshalb geht der Eros uns Menschen etwas an und kann uns bewegen, zum Guten wie zum Schlechten. Vor allem aber drängt er uns zur Unsterblichkeit. Zu Nachwuchs und großen Werken. Macht dieses Bild des triebhaft lebendigen Eros auch für uns moderne Menschen noch Sinn?
Türchen 2: Bedingungslose Liebe
„Wir lieben die Dinge nicht zwangsläufig deshalb, weil wir ihren Wert erkennen. Vielmehr gewinnt das, was wir lieben, notwendig an Wert für uns, weil wir es lieben. … Nehmen wir die Liebe der Eltern zu ihren Kindern. Ich kann mit unmissverständlichem Vertrauen sagen, dass ich meine Kinder nicht deswegen liebe, weil ich mir eines Wertes bewusst bin, der ihnen unabhängig von meiner Liebe zu ihnen innewohnt. Vielmehr habe ich sie sogar schon geliebt, bevor sie auch nur geboren waren. Mehr noch, ich glaube nicht, dass mir die wertvollen Eigenschaften, über die sie tatsächlich verfügen, an sich betrachtet zwingende Gründe an die Hand geben, um ihnen einen größeren Wert zu verleihen als all den anderen Objekten der Liebe, die ich tatsächlich viel weniger liebe. Mir ist klar, dass ich sie nicht deswegen mehr liebe als andere Kinder, weil ich sie für besser halte.“
(Harry Frankfurt: Gründe der Liebe; übersetzt von M. Hartmann, Suhrkamp 2005; S.44f.)
Das ist ein schönes Bild: Unsere Liebe fließt wie ein warmer Strom zu unseren Kindern und macht sie wertvoll. Andere Autoren beschreiben so die Liebe Gottes zu seinen Menschenkindern. Solch eine Liebe ist bedingungslos und unerschütterlich. Sie ist unbegründet und soll unbegründet bleiben. Das ist stark gesagt, und ich fühle mich nicht ganz wohl dabei, dieses harmonische Bild zu stören. Andererseits ich will meine skeptischen Gedanken auch nicht für mich behalten: Harry Frankfurt zufolge ist nicht nur die Liebe zu unseren Kindern, sondern jede Liebe so wie er sie hier beschreibt. Was aber sorgt dann dafür, dass wir den einen Partner lieben und nicht den anderen? Ist es eine Art Instinkt wie der, den uns die Natur für die Fürsorge der eigenen Kinder einprogrammiert hat? Oder spielen hier nicht doch auch Gründe der Liebe eine Rolle? Und noch ein ketzerischer Gedanke zu den Kindern: Kommt es nicht auch vor, dass uns das eine von mehreren Kindern lieber oder weniger lieb ist als die anderen?
Türchen 3: Machtspiele
„Eine junge Frau ist ärgerlich, warum, weiß sie selbst nicht so recht, und verlässt das Bett, das sie mit dem Geliebten teilt, um sich einen anderen Winkel des Gemachs zum Schlafen zu suchen. Liebevoll bemüht er sich, sie zurückzuhalten, aber sie sträubt sich, und er denkt: ‚Wie unvernünftig und launisch sie heute Abend ist.’ Rasch verschwindet er wieder im warmen Bett und zieht die Decken recht behaglich bis zur Nasenspitze. Die Nacht ist kalt, und sie hat nur ein einziges Gewand am Leibe! O wie sie friert und sich bemitleidet und denkt, sie sei der einzige Mensch, der noch wach ist und mutterseelenallein auf der ganzen Welt! Wieviel klüger wäre es gewesen, den kleinen Streit früher zu beginnen und dann rechtzeitig wieder Frieden zu schließen.“
(Sei Shōnagon: Das Kopfkissenbuch; übersetzt von A. Pfizmaier, Insel Verlag 1975, S.26f.).
Diese Anekdote wird uns erzählt von Sei Shōnagon, einer japanischen Hofdame des 11. Jahrhunderts. Ich finde es erstaunlich, wie mühelos wir die von ihr beschriebene Begebenheit nachvollziehen können. Vielleicht sind die geschilderten Streitigkeiten und Neckereien ein universaler Bestandteil aller Liebesbeziehungen? Bemerkenswert finde ich außerdem die Darstellung von Mann und Frau: Sie die widerspenstige und berechnende Querulantin, er der ruhige, aber auch selbstzufriedene Widerpart. Sind auch diese Geschlechterrollen universelle Gegebenheiten? Oder spiegeln sie Machtverhältnisse wider, die heute wie damals den Umgang von Frauen und Männern prägen?
Türchen 4: Eifersucht
„Hast Du nicht gewusst, dass wir alle begrenzt sind? Dieses Bewusstsein ist bitter schon im stillen, schon unter zwei Augen. Nun hast du das Gefühl wie jeder, dessen Grenzen überschritten werden und dadurch sozusagen gezeigt; das Gefühl, dass sie dich an den Pranger stellt. Daher bleibt es nicht bei der Trauer, hinzu kommt die Wut, die Wut der Scham, die den Eifersüchtigen oft gemein macht, rachsüchtig und dumm, die Angst minderwertig zu sein. Plötzlich, in der Tat, kannst du es selber nicht mehr glauben, dass sie dich wirklich geliebt habe. Sie hat dich aber wirklich geliebt. Dich! – aber du, wie gesagt, bist nicht alles, was in der Liebe möglich ist … Auch er nicht! Auch sie nicht! Niemand! Daran müssen wir uns schon gewöhnen, denke ich, um nicht lächerlich zu werden, nicht verlogen zu werden, um nicht die Liebe schlechthin zu erwürgen.“
(Max Frisch: Tagebücher 1946-1949, Suhrkamp 1985, S.376f.)
In seinem Tagebucheintrag aus dem Jahr 1949 analysiert Max Frisch die Eifersucht. Zunächst scheint es uns so, als könnten wir als Eifersüchtige nicht ertragen, dass wir austauschbar sind. Frisch bohrt aber weiter und führt die tiefer liegende Verletzung darauf zurück, dass uns beim Betrug und Verlassen werden gezeigt wird, dass wir dem andern nie alles bieten können; dass wir begrenzt sind. Wir sind einzigartig und der andere hat uns auch als einzigartiges Wesen erkannt. Aber gerade in unserer Einzigartigkeit können wir niemals alle Wünsche befriedigen. Eine scharfsinnige Analyse der Eifersucht. Aber was heißt das für die Partnerschaft? Sollen wir gehen, wenn uns langweilig wird? Wenn wir die Grenzen des Anderen ausgiebig erkundet haben?
Türchen 5: The look of love
„Von Michelangelos Madonna con bambino bis hin zu Jamini Roys Mother and Child, von Lucien Levy-Dhurmers Salome bis hin zu Picassos und Chagalls The Lovers sowie in vielen der erotischen Skulpturen von Khajuraho, überall sehen wir denselben Blick der Liebe auf den Gesichtern der Liebenden. … Dieser Blick ist ein aufmerksamer Blick, ein Blick, der das geliebte Wesen wirklich zu sehen scheint. Es ist kein verfälschender Blick der Projektion oder Fantasie, und auch nicht der egoistische Blick der Inbesitznahme. Indem der Blick der Liebe das geliebte Wesen so sieht wie es ist, bestätigt er den Wert dieses Wesen um seiner selbst willen.“
(Neera K. Badhwar: „Love“, in: H. LaFollette (Hrsg.): The Oxford Handbook of Practical Ethics. Oxford University Press 2003.)
„Liebe macht blind“, sagt der Volksmund, aber die indisch-amerikanische Philosophin Neera Badhwar widerspricht energisch. Im Gegenteil: Erst der Blick der Liebe lässt uns die Dinge erkennen wie sie sind. Schon der mittelalterliche Theologe und Philosoph Richard von Sankt Viktor hatte gesagt „Ubi amor, ibi oculus“, „wo Liebe ist, da ist Auge.“ In dieser Tradition stehend hält Badhwar es für einen besonderen Vorzug der Liebe, dass sie Projektionen, Fantasien und von Eigeninteressen geleitete Wahrnehmungen überwindet und mit ihrem Blick zum Wesen des geliebten Menschen vordringt. Aber hat der Volksmund nicht doch auch recht, dass wir am geliebten Menschen vornehmlich das Positive wahrnehmen, und wenn die Liebe endet, fällt es uns wie Schuppen von den Augen? Was also sieht die Liebe und was sieht sie eventuell auch nicht?
Türchen 6: Seelenverwandtschaft
„Will man mit aller Gewalt von mir wissen, warum ich ihn geliebt habe: so merke ich, dass ich dieses nicht anders ausdrücken kann, als durch diese Antwort: Weil er es war, weil ich es war. Es zeigt sich darinnen, ich weiß nicht was für ein unbegreiflicher und unüberwindlicher Zug, welcher diese Vereinigung vermittelte, der über meine Vernunft ist, und den ich nicht umständlich beschreiben kann. Wir suchten uns, ehe wir uns gesehen hatten, und weil wir von einander hatten reden hören; welches zu unserer Zuneigung mehr beitrug, als man hätte denken sollen; ich glaube, auf eine Verordnung des Himmels. Wir umarmten uns gleich das erste Mal, als wir einander nennen hörten. Und als wir uns antrafen, welches bei einem großen Feste und bei einer Gesellschaft in der Stadt geschah, wurden wir so eingenommen, so bekannt, so vertraut mit einander, dass von der Zeit einer dem andern beständig der liebste war.“
(Montaigne, Über die Freundschaft; übersetzt von J.D. Tietz, Diogenes 1992; S.332f.)
Für Montaigne ist die Männerfreundschaft die einzig wahre Form der Liebe. Er selbst schätzt sich glücklich, eine solche Freundschaft mit Stephan de la Boetie erfahren zu haben. Vor allem ist die freundschaftliche Liebe in Montaignes Augen allen biologischen Beziehungen, z.B. zwischen Geschwistern oder Eltern und ihren Kindern überlegen. Aber auch die Ehe kommt bei ihm schlecht weg. In dieser Bewertung der verschiedenen Beziehungsformen ist für ihn entscheidend, dass die Freundschaft auf geistiger Nähe beruht. Die Chemie stimmt, man sendet auf derselben Frequenz, wie wir heute vielleicht sagen würden. Nur dann, so Montaigne, sind uneingeschränktes Vertrauen und vollkommene Offenheit, die Wesenszüge der Liebe, möglich. Bei Montaigne ist die Seelenverwandtschaft etwas schicksalhaft Gegebenes, eine „Verordnung des Himmels“. Dann scheint die Aufgabe nur noch darin zu bestehen, solche eine geistige Nähe zu finden. Können und müssen wir aber nicht doch noch etwas mehr tun, um Vertrauen, Offenheit und Nähe hervorzubringen und zu erhalten?