PHILOSOPHISCHER ADVENTSKALENDER – TÜRCHEN 13 BIS 18

Weihnachten wird gerne als „Fest der Liebe“ bezeichnet. Tatsächlich sind wir in der Weihnachtszeit aber oft gestresst und gehen nicht besonders liebevoll miteinander um. Es schadet also sicher nicht, ein paar besinnlich-philosophische Momente in den Adventstrubel einzustreuen und darüber nachzudenken, was Liebe denn eigentlich ist. Daher haben Anna und Paulus Kaufmann vom Philosophischen Foyer einen Adventskalender zusammengestellt, der täglich ein Zitat, ein Bild und frische Denkanstöße zum Thema „Liebe“ enthält. Nehmen Sie sich also einmal am Tag eine Viertelstunde Zeit zum Nachsinnen und Weiterdenken. Schreiben Sie uns gerne, was Ihnen dabei in den Kopf kommt: Widerspruch, Zustimmung, weitere Fragen, eigene Erfahrungen etc. Wir wünschen Ihnen eine besinnliche Adventszeit!

 

Türchen 13: Lieben oder Benutzen?

Tullia: Doch sagt mir nun: meint Ihr nicht, dass es Leute gibt, die lieben, um an ihr Ziel zu gelangen, und dann, wenn sie ihre Absicht erreichen, aufhören zu lieben?
Varchi: Nein, Herrin.
Tullia: Das zeigt mir, dass Ihr in Liebesdingen nicht wohl bewandert seid; verzeiht, aber Leute dieser Art kannte ich unzählige, und kenne sie auch heute die Menge. 
Varchi: Auch ich kenne sie, und kannte sie übergenug.
Tullia: Und was sagt Ihr nun zu diesem Einwand?
Varchi: Nichts anderes, als dass sie in Wahrheit nicht lieben und keine Liebenden sind.

(Tullia D’Aragona: Die Unendlichkeit der Liebe; übersetzt von M. Haag, Brandes & Apsel 1988)

In der Renaissance besannen sich viele italienische Philosophen auf die antiken Liebestheorien und verfassten wie Platon Dialoge, die der Liebe gewidmet waren. Einer der interessantesten Dialoge stammt von Tullia d’Aragona. Dieser Dialog ist nicht nur einer der wenigen, der von einer Frau verfasst wurde, er bemüht sich auch in besonderem Maße, die platonischen Theorien zum alltäglichen Erleben der Liebe in Beziehung zu setzen. Und Tullia war hierfür sicherlich eine kompetente Gewährsfrau, schließlich war sie eine berühmte Kurtisane. Auch in dieser Passage konfrontiert sie ihren Gesprächspartner, den real existierenden Benedetto Varchi, mit ihren Alltagserfahrungen. Sie konstatiert, dass Menschen sich anderen primär deshalb zuwenden, um von ihnen einen Gegenwert zu erhalten. Sie benutzen einander und wenn sie bekommen haben, was sie wollten, ziehen sie lieblos von dannen. Varchi und Tullia werden sich schnell einig, dass das zwar eine verbreitete Form der Beziehung ist, aber sicher keine Liebe im vollen Sinne. Denn die wahre Liebe ist unendlich. Tullia aber scheint nie die wahre Liebe gefunden zu haben. Sie stirbt vereinsamt und verarmt als Prostituierte mit 46 Jahren. Vielleicht ist ihr Blick auf die Realität der Liebe auch aufgrund ihrer eigenen Situation so negativ. Oder hat sie Recht? Finden wir hinter der Fassade der Liebe meist doch nur den blanken Eigennutz?

Türchen 14: Fernbeziehung

Ich habe mich in ein 2D Wesen verliebt,
Der Mensch, der es geschaffen hat, ist ein Gott.
Hier sind alle Menschen nett,
Und mein geliebtes Idol geht nicht in Flammen auf.
In öden Momenten,
Überstrahlt sie alles,
Verleiht meinem Leben Sinn.
Ich möchte in den Bildschirm eintauchen,
Bitte komm doch raus.
Ich leide!

Der japanische Rapper Takayan ist ein muskelbepackter Typ, passt aber kaum in das Klischee machohafter Gangsterrapper. Er zeigt sich gerne in Frauenkleidern und thematisiert in seinen Texten das, was die Gesellschaft am liebsten verdrängen würde: Selbstmord, Depressionen und in diesem Lied das in Japan verbreitete Phänomen der Weltflucht. Vor allem junge Männer igeln sich vollständig in ihrem Zimmer ein und leben in einer Phantasiewelt animierter Figuren. Diese Figuren werden angehimmelt und erfüllen die Gedanken ihrer Fans. Das kommt uns erst mal sehr fremd vor. Aber auch wir identifizieren uns bisweilen mit Stars, Kinohelden oder Romanfiguren. Und Idealisierung und Weltflucht kennen wir auch aus der realen Welt. Takayan macht aber deutlich, dass das ein äußerst zwiespältiger Zustand ist: Man fühlt sich sicher und schwelgt in Zuneigung, aber die wahren Bedürfnisse bleiben unerfüllt. Sind das Anhimmeln der geliebten Person und das Abdriften in Phantasievorstellungen Impulse oder eher Hindernisse der Liebe?

 

Türchen 15: Wesen und Wandel

Volo, ut sis: Kann heißen, ich will, dass Du seist, wie Du eigentlich bist, dass Du dein Wesen seist, und ist dann nicht Liebe, sondern Herrschsucht, die unter dem Vorwand zu bestätigen, selbst noch das Wesen des Anderen zum Objekt des eigenen Willens macht. Es kann aber auch heißen: Ich will, dass Du seist, wie immer Du auch schließlich gewesen sein wirst. Nämlich wissend, dass niemand ante mortem der ist, der er ist, und vertrauend, dass es gerade am Ende recht gewesen sein wird.

(Hannah Arendt: Denktagebuch, 1950-1973, Piper 2003, S.276f.)

Martin Heidegger schreibt Hannah Arendt 1925, zur Zeit ihrer Liaison, in einem Brief: „Amo heißt volo, ut sis, sagt einmal Augustinus – ich will, dass Du seiest, was Du bist.“  Der Satz „volo, ut sis“ findet sich so zwar nicht bei Augustinus, aber für Arendt bleibt er zeitlebens bedeutsam. In ihrem Denktagebuch stellt sie 1952 heraus, dass der Satz zweierlei Haltungen meinen kann: Ich kann die geliebte Person auf eine bestimmte Schablone, auf ihr Wesen festlegen. Das aber ist Herrschsucht. Oder ich kann sie liebevoll begleiten, wie auch immer sie sich entwickelt. Für Arendt sind wir unfertige Geschöpfe, in ständiger Entwicklung begriffen, und echte Liebe bleibt offen für Mehrdeutigkeit und Wandel. Wenn man dieses Ideal erreicht, kann es dann eigentlich noch zu Trennungen kommen? Kann man sich „auseinander entwickeln“?

 

Türchen 16: Heilmittel gegen die Liebe

Bis du das Lieben verlernst, muss dies oder andres bewirken,
dass du selbst dich betrügst, ohne dass du es bemerkst.
Geh nur, mögen auch noch so feste Bande dich halten,
in die Ferne und weit zieh auf den Straßen dahin.
Weinen wirst du, dir kommt in den Sinn der verlassenen Freundin
Name, und stehen bleibt oft auf dem Weg dir der Fuß.
Doch je weniger gerne du gehst, desto eifriger gehe;
halt nur durch, und den Fuß zwinge, auch wenn er nicht will.

(Ovid: Remedia Amoris. Reclam 2011, S.23)

Was tun, wenn man unglücklich verliebt ist und der Schmerz nicht von alleine vergehen will? Der römische Dichter Ovid hat ein kleines Lehrgedicht geschrieben, das eigens dieser Frage gewidmet ist. Mal empfiehlt er, sich in Arbeit zu stürzen, mal rät er das trauernde Herz durch eine Jagdunternehmung abzulenken. An dieser Stelle aber legt uns Ovid nahe, zu Fuß in die Ferne zu ziehen. Das wird Überwindung kosten und zunächst schmerzhafte Gefühle an die Oberfläche spülen. Aber mit Ausdauer und Geduld werden die Distanzierung und das Gehen dabei helfen, unser Leiden zu überwinden. So sieht es jedenfalls Ovid. Was sind Deine Erfahrungen? Wie überwindet man eine unglückliche Liebe?  

 

Türchen 17: Symbiotische Liebe

In jenen frühen amorphen Jahren, als das Gedächtnis gerade einsetzte, als das Leben nur aus Anfängen bestand und nichts ein Ende hatte, als alles für immer war, hielten sich Esthappen und Rahel, wenn sie an sich beide dachten, für ein einziges Ich, und einzeln waren sie ein Wir oder Uns. Als wären sie eine seltsame Art siamesischer Zwillinge, mit getrennten Körpern, aber mit einer gemeinsame Identität.

(Arundhati Roy: Der Gott der kleinen Dinge. btb 1999, S.10f.)

Die Geschwisterbeziehung wird in Liebesdiskursen nur selten behandelt. Dabei ist die Beziehung zu unseren Geschwistern oft die längste unseres Lebens. Arundhati Roy beschreibt hier die Beziehung zwischen den Zwillingen Esthappen und Rahel. Die beiden empfinden sich in ihrer frühen Kindheit als Einheit, eine Verbundenheit, die trotz traumatischer Ereignisse und Trennungen auch im späteren Leben nicht abbricht. Roy liefert damit ein überzeugendes Bild für den symbiotischen Charakter der Geschwisterbeziehung. Zugleich ist das Verhältnis zu unseren Geschwistern geprägt von Streitigkeiten, Rivalität, Neidgefühlen und Eifersucht. Die Psychoanalytikerin Melanie Klein führt aus, dass eine Gefühlsmischung aus Aggression und Liebe, Schuldgefühlen und Wiedergutmachungswünschen für die Geschwisterbeziehung charakteristisch ist. Wie schaffen wir es, die positiven Kräfte, die dieser Beziehung innewohnen, zu entfalten? Was können wir als Brüder und Schwestern, sowie als Eltern für gute Geschwisterbeziehungen tun?

 

Türchen 18: Zarte Neigungen

Beschränke dich nur nicht auf jene tiefen Gefühle, die dich an eine kleine Zahl von Menschen binden könnten. Lass in deinem Herzen zarte Neigungen entstehen zu all den Menschen, die dir von den Ereignissen, den Lebensgewohnheiten, deinen Vorlieben und Beschäftigungen nahegebracht werden.

Caritat de Condorcet: „Ratschläge an seine Tochter“; in: Philosophische Meisterstücke I, hrsg. von E. Martens u.a., Reclam 1998, S.61

Dieser Text hat in zweifacher Weise mit der Liebe zu tun: Er handelt von der Liebe und er ist das Produkt einer Liebe, der Liebe von Marie Jean Antoine-Nicolas Caritat der Condorcet (1743-1794) zu seiner Tochter Eliza. Condorcet ist ein überzeugter Anhänger der Französischen Revolution. Er wendet sich jedoch gegen einen Verfassungsentwurf der Jakobiner und wird daraufhin zum Tode verurteilt. Condorcet flieht und schreibt in seinem Versteck ein Geschichtswerk sowie diesen Brief an seine damals vierjährige Tochter, in dem er ihr Ratschläge für das Leben gibt. Kurz nach Beendigung seines Briefes verlässt Condorcet sein Versteck, um seine Helfer nicht weiter in Gefahr zu bringen, und wird bald darauf gefangen genommen. Er stirbt wenige Tage nach seiner Inhaftierung. Condorcet geht sehenden Auges in den Tod, doch bevor er dies tut, möchte er seiner geliebten Tochter noch mitteilen, welche Erfahrungen er im Leben gemacht hat. Er ermutigt Eliza vor allem, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Darüber hinaus soll sie ihre Gefühle kultivieren und die Liebe nicht nur ein paar wenigen Menschen vorbehalten. „Zarte Neigungen“ sollten wir allen Menschen schenken, mit denen wir zu tun haben. Was für eine große Haltung von einem Menschen, der von engen Vertrauten und Mitstreitern verraten worden war! Umfasst die Liebe somit mehr als die „tiefen Gefühle für eine kleine Zahl von Menschen“? In welchen konkreten Umgangsformen äußern sich solche zarten Neigungen?

 

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