Kopernikus der Horrorgeschichte

Der Cthulhu-Mythos hat seinen Ursprung in einer Geschichte des Horrorgeschichten Autors H.P. Lovecraft. Im Katalog zur Ausstellung RICOCHET erklärt Martin Heindel die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des viel zitierten Monsters. Hier ein exklusiver Vorabdruck und zusätzlich ein paar historische Fotoaufnahmen:

Foto: Schriftsteller H.P. Lovecraft mit seiner Gattin, der jüdischen Ukrainerin Sonia Green.

Howard Phillips Lovecraft (1890–1937), der Kopernikus der Horrorgeschichte,(1) ließ den Großen Cthulhu in nur einer Geschichte tatsächlich auftreten: Cthulhus Ruf (1928). Dass der Namensgeber dieser als Dokument inszenierten Geschichte dennoch zu einiger Berühmtheit gelangte, liegt vor allem an dem nach ihm benannten Cthulhu-Mythos.

»Dieser Mythos postuliert eine Rasse fremdartiger Götter und grotesker vorgeschichtlicher Völker, die immerzu ihren Schabernack mit Zeit und Raum treiben und in die zeitgenössische Welt einbrechen, gewöhnlich irgendwo in Massachusetts.«(2) Wenn man es weniger boshaft formulieren möchte als Edmund Wilson, ein ehemals berühmter Literaturkritiker, dann erzeugt Lovecrafts Schöpfung wiederkehrender kosmischer Quasi-Gottheiten eine beklemmende Kohärenz. Denn der Cthulhu-Mythos verhält sich zu Lovecrafts zahlreichen Horrorstorys ähnlich wie die Erzählungen der griechischen Sagenwelt zu den Tragödien des antiken Theaters. Er bildet die Folie, vor deren Hintergrund das Geschehen seinen Lauf nimmt.

Foto: Howards Kinderstube im Jahr 1891 – acht Jahre später stirbt sein Vater Winfield mit Wahnvorstellungen in der Psychiatrie. 1919 wird auch seine Mutter in die Nervenklinik eingeliefert.

Während die antiken Dramatiker den Mythos bei ihrem Publikum aber als bekannt voraussetzen konnten, weiß Lovecrafts Leser zunächst nichts über die »urzeitlichen Mythen von den Alten Wesen, die angeblich von den Sternen herabgekommen waren und das irdische Leben zum Spaß oder aus Versehen erzeugt hatten«.(3) Aber dank vager Andeutungen und mit Hilfe fiktiver verbotener Bücher, wie dem Necronomicon des verrückten Arabers Abdul Alhazred oder den Unaussprechlichen Kulten von de Junzt, ist der Leser schnell informiert. Er weiß, was kommt, und er soll es wissen. Nach der Devise »Es hilft alles nichts, ich muss reden« legt der Erzähler los. Zwischendurch tief Luft holend und das Ungeheuerliche der jeweils folgenden Passage betonend, führt er den Leser mit quälender Langsamkeit an die »labyrinthischen Abgründe[n] von Zeit und Raum und unbekannten Dimensionen« (4) heran.

Diese zum Teil ermüdend oft wiederkehrenden erzählerischen Muster fügen sich aber, dank der Erfindung eines detailliert imaginierten Hintergrunds in Neuengland – wie das berühmte Arkham, Sitz der Miskatonic-Universität – vor allem aber dank der einenden Kraft des Mythos, zu einem textübergreifenden, intertextuell verwobenen Ganzen.

Foto: Howard als Zehnjähriger.

Die vielen nach Innen gerichteten Verflechtungen und Valenzen stabilisieren den Lovecraft’schen Kosmos und geben ihm eine gewisse Eigengesetzlichkeit, die, gemeinsam mit den losen Enden im Gewebe des Mythos, seine Offenheit nach Außen gewährt und zu unzähligen Über- und Weiterschreibungen in allen Bereichen der unterhaltenden Kultur geführt hat.


(1) Vgl. Fritz Leiber Juniors Studie: Ein literarischer Kopernikus. Übers. v. Jürgen Sander. In: H. P. Lovecraft: Kosmisches Grauen. Hg. v. Franz Rottensteiner. Frankfurt/Main 1997, S. 44–59.

(2)Edmund Wilson: Erzählungen des Wundersamen und des Lächerlichen. Übers. v. Jürgen Sander. In: Kosmisches Grauen. Hg. v. Franz Rottensteiner. Frankfurt/Main 1997 (= The New Yorker, 24.11.1945). S. 174.

(3) H. P. Lovecraft: Berge des Wahnsinns. Übers. v. Rudolf Hermstein. Frankfurt/Main 1997. S. 46f.

(4) Ebd. S. 53f.

Katalog zu »343 m/s«
Der Begleitband zur Ausstellung »343 m/s« von Cris Koch erscheint im Kerber Verlag am 25. Februar 2010.
Der Katalog beinhaltet einen ausführlichen Einführungstext der Kuratorin Anne Marr, einen Beitrag von Martin Heindel über H.P. Lovecrafts Gestalt »Cthulhu« sowie farbige Installationsansichten, die die erste Ausstellung der Reihe RICOCHET dokumentieren.

Buchpräsentation am Donnerstag, 4. März 2010, 20.00 Uhr
Cris Koch im Gespräch mit Evelyn Pschak (SZ) präsentieren den ersten Band der Reihe RICOCHET.
Musik von den Zündfunk-DJs. Eintritt frei

Fotos: Die Bilder sind nicht dem Katalog entnommen, sondern von dem Lovecraft-Forscher Jill Stevenson für das Blog zu Verfügung gestellt worden.

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