Zurzeit befindet sich im Museum VILLA STUCK eine große Ausstellung der Künstlerin Nevin Aladağ. Nevin Aladağ kombiniert Bilder und Klänge, experimentiert, zerschneidet ihr Material, zum Beispiel verschiedenartiger Teppiche und verbindet sie zu neuen Kompositionen. Die preisgekrönte Lyrikerin Ulrike Draesner hat sich von diesen Teppich-Collagen inspirieren lassen und verblüffende Analogien zu ihrer Vorgehensweise beim Schreiben entdeckt. Die Autorin verknüpft in ihren Texten visuelle mit akustischen Elementen, zerstückelt und setzt neu zusammen. Was passiert, wenn man diese beiden künstlerischen Formen verbindet, wenn man diese beiden Künstlerinnen zusammenbringt? Etwas Aufregendes, Neues, Sprudelndes. Den Mitschnitt einer Lesung sowie eines Gesprächs mit Ulrike Draesner im Museum Villa Stuck könnt ihr jetzt auf unserem YouTube-Kanal nachschauen:
Ulrike Draesner wurde vom Museum VILLA STUCK eingeladen, sich mit dem Werk der Künstlerin auseinanderzusetzen. Daraus ist ein Beitrag zum Ausstellungskatalog entstanden, in dem sie Gedanken über Texte und Teppiche auf zutiefst poetische Art und Weise miteinander verwoben hat. Er heißt: „Stimme verleihen. Gedanken zu Teppichen und Texten“.
Ganz nah heran – die hybride Lesung im Alten Atelier von Franz von Stuck
Am 28. Januar, in einer Live-Zuschaltung aus ihrem Studio in Berlin, las die Schriftstellerin Ulrike Draesner ihren Text zur Ausstellung sowie Passagen aus ihrem aktuellen Gedichtband “hell und hörig” und führte ein Gespräch mit der Kulturjournalistin Simone Dattenberger. Die Kuratorin der Ausstellung, Dr. Helena Pereña, führte durch den Abend.
Die Lyrikerin im privaten Umfeld ihrer Schreibwerkstatt per Videozuschaltung zu erleben, ist dabei trotz physischer Abwesenheit ein Gewinn: In überdimensionaler Größe wird Ulrike Draesners Gesicht an die Wand gestrahlt und man hat den besten Blick auf ihre Mimik und Gestik beim Lesen und Nachdenken.
Als erstes liest sie aus dem Beitrag „Stimme verleihen. Gedanken zu Teppichen und Texten“, den sie als literarischen Kommentar zu den Werken der Ausstellung schrieb. Die Fäden der einzelnen Worte weiß sie souverän zu einem anregenden Stoff neu zu verweben. Auch Nevin Aladağ eröffnet mit ihren Teppichen neue Möglichkeiten in der Ausstellung SOUND OF SPACES. Im Vorgespräch sagt Draesner dazu, dass Aladağ als Künstlerin und sie als Schriftstellerin sich im Grunde mit ähnlichen Fragen beschäftigen. Sie würden beide “Stimmen hörbar machen, die man sonst nicht hört.“
Verwobene Texte: die stummen Stimmen der Teppiche
Freundlich, fast schelmisch, blickt Ulrike Draesner dann von der Videowand. Sie beginnt: „Teppiche sind Körper aus Stoff, auf denen andere Körper, umhüllt von Stoff, stehen, gehen, sitzen oder schlafen“. Sowohl in Teppichen als auch in Texten erkennt sie „artifizielle Gewebe.“ Der Unterschied? „Anders als Teppiche können und wollen literarische Texte Klang werden – durch einen Vortrag auf einer Bühne.“
Man könnte sagen, Ulrike Draesner verleiht den Teppichen der Ausstellung eine Stimme, leiht ihnen Worte. Auch ein Teppich erzählt Geschichten, speichert sie und gibt sie zurück in den Raum. Draesner berichtet in ihrem Ausstellungsbeitrag etwa von ihren Erfahrungen aus Marokko, wo es den Mythos vom Gespenst im Teppich und seiner ungehörten Stimme gibt.
Ob beim Motiv der nicht-gehörten Stimmen auch eine politische Note mitschwinge, fragt Dattenberger. Draesner antwortet: „Am Anfang war mir gar nicht bewusst, wie politisch das ist. Aber dieser Aspekt ist mir immer wichtiger geworden.“ In ihrem Werk ging es immer wieder um marginalisierte Stimmen und Gruppen. Im Roman „Mitgift“ von 2002 etwa stehen bereits Fragen nach der (Nicht-)Bestimmung von Gender und Sexualität im Zentrum, Fragen nach der Identität von Personen, die sich als Inter-Menschen begreifen oder Trans-Identitäten leben.
Nach ihrem Beitrag zur Ausstellung und den darauffolgenden Fragen beginnt ein Streifzug durch ihren Gedichtband. „Und natürlich hat sie das wieder gar nicht chronologisch geordnet“, sagt Dattenberger, „sondern gewühlt und gewälzt, so dass sich alles perfekt fügt.“ Draesner liest in zwei Blöcken aus dem Band, dazwischen werden wieder Fragen gestellt. Der dann gezeigte Film “exit erdbeerklee” unterstreicht eindrücklich und in künstlerischer Weise Draesners individuellen Umgang mit Rhythmus und Sprache.
Zum Thema Schule und Gedichtinterpretation hat sie als Lyrikerin auch etwas anzumerken. So sei die oft gestellte Frage „Was will uns die Autorin damit sagen?“ ihrer Meinung nach „völlig sinnlos“. Beim Lesen von Gedichten gebe es „kein Richtig und Falsch, sondern es gibt etwas, das einen was angeht“, sagt sie. Denn vielmehr gehe es beim Lesen um Bereicherung: „Die Texte sollen Menschen in ihrer Wahrnehmung und ihrem Empfinden bereichern.“
Die Tür zur Welt der Lyrik
„Die Geschichten übernehmen beim Vorlesen die Führung“, sagt die Autorin weiter. „Darüber, dass sie bei anderen Menschen ankommen, werden sie erst lebendig“, stellt sie fest. Dass einige ihrer Texte heute Abend wirklich lebendig wurden, zeigt vielleicht eine Szene im Anschluss an die Lesung: noch auf den Sitzen entfaltet sich ein Gespräch zwischen zwei Besucherinnen. Die eine ist Mitte 50, die andere Anfang 20. Die Ältere ist langjähriger Fan von Ulrike Draesner, hat bereits ein Seminar bei ihr besucht; die Jüngere kannte bis zu diesem Abend weder Ulrike Draesners Namen, noch hatte sie einen tieferen Bezug zu Lyrik. Das sei nun anders, sagt sie und klingt dabei so, als hätte sich heute Abend die Tür zur Welt der Lyrik einen Spalt weit für sie geöffnet.
Bilder: ©Mirja Kofler; Text: Lea Schönborn
Tags: Lesung, Nevin Aladag, Ulrike Draesner