Theresia Enzensberger über Martin Fengel #27

Mit einem Text der Journalistin und Übersetzerin Theresia Enzensberger zu diesem Fengel-Bild der Woche lassen wir das Jahr 2012 hinter uns und wünschen allen treuen Lesern unseres Blogs einen guten Rutsch in ein Jahr, das hoffentlich nicht so blass wird wie die Frau auf dem Foto.

„Ein bißchen gruselig ist es schon, das Fengel’sche Bild. Es läßt alle möglichen düsteren Assoziationen zu, so denke ich zum Beispiel unweigerlich an Formaldehyd und Six Feet Under, zumal das weiße Tuch knapp unter der Achselhöhle der Puppe so aussieht, als hätte es der Bestatter nach der Thanatopraxie dort vergessen.

Aber eigentlich ist das nicht das Erschreckende. Eigenartiger ist die Tatsache, daß die Dame so viel Persönlichkeit besitzt. Wie eine verlebte Madonna schließt sie die Augen, aber sie scheint sich weder im Schlaf noch im Jenseits zu befinden. Stattdessen blickt sie konzentriert in sich hinein. Dieser menschliche Zug ist uns vertraut, während die chirurgisch genaue Öffnung des Oberarmes uns nie vergessen läßt, daß es sich hier um eine Puppe handelt. Unheimlich ist die Dame also ganz klassisch im Freud’schen Sinne.

Als Fotograf muss man sich mit dem Rahmen beschäftigen, ist doch in jeder Fotografie die Entscheidung zu sehen, welchen Ausschnitt der Realität man zeigt. Martin hat dazu nicht nur im übertragenen Sinne eine ganz klare Position, beim Blättern durch den Atlas fällt auch eine explizite Beschäftigung mit dem Thema auf.

Auch auf diesem Bild gibt es einen Ausschnitt zu sehen, und damit meine ich nicht das Dekolleté der Frau, obwohl ihr Busen vielleicht das Schönste an ihr ist. Sie läßt auch in anderer Hinsicht tief blicken, bis hin zu den glänzenden Muskelfasern. Tiefrot und gut durchblutet sehen sie aus, ganz im Gegensatz zu der nikotinfarbenen Blässe, mit der unsere Madonna sonst geschlagen ist. Dieser Widerspruch, der sich von Bildebene zu Bildebene fortsetzt, verstärkt noch einmal das Unheimliche, denn eigentlich meint man, sie könnte jeden Moment die Augen aufschlagen.“ (Theresia Enzensberger)

Ein Begleitblog zum Projekt “Wachs” von Martin Fengel:
Martin Fengel schickt jede Woche einem Künstler, Autor und anderen Menschen, dessen Arbeit oder Werk er besonders schätzt, ein Foto mit der Bitte, dies zu betrachten und ein paar Zeilen über die einströmenden Assoziationen aufzuschreiben. So entsteht zu dem optischen auch ein textliches Kompendium, was sowohl die Möglichkeit der Interpretation oder einfach nur der Beschreibung birgt.
Auf mucbook und im Blog der Villa Stuck zeigen wir jeden Montag – wenn das neue Bild aufgehängt wird – was sich andere dazu denken.

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