Wenn Frauen aus der Grube lächeln

Die Ausstellung von Hito Steyerl ist vorbei – aber viele fragen sich noch immer: Was sollten eigentlich diese bunten Kästen? Es sind digitale Wasserzeichen eines bekannten Internetauktionshauses. Stark vergrößert. Hito Steyerl demontierte sie von Fotos aus dem Zweiten Weltkrieg, die – 1,2,3, meins – zur Versteigerung angeboten wurden. Zum Schutz vor illegalem Download und um besonders grausame Szenen zu verschleiern, wurden die Flächen von den Anbietern hinzugefügt.  Die Künstlerin untersucht damit die Wahrnehmung der Brutalität des Krieges unter den Bedingungen der globalen Kommerzialisierung. Der Autor Martin Pollack widmete sich dem Thema auf seine Weise. Mit einem erschütternden Beitrag für die Neue Züricher Zeitung. Der Beitrag ist im Katalog zur Ausstellung von Hito Steyerl zu finden – und mit freundlicher Genehmigung des Autors auch hier.

Im Internet gibt es einen Markt an historischen Souvenirbildern, der vom Verfall der Scham gegenüber den Opfern des Zweiten Weltkriegs zumal in Osteuropa und von einer neuen Lust am realen Schrecken zeugt. Es steht zu vermuten, dass diese Fotos aus dem Nachlass von
mittlerweile verstorbenen Soldaten der deutschen Wehrmacht stammen.

Vor mir liegen zwei Fotografien, 6×9 cm, die eine im Hoch-, die andere im Querformat. Die Grösse der Bilder lässt auf eine Kleinbildkamera schliessen, wie sie früher gern von Amateurfotografen verwendet wurde, um auf Reisen, bei Familienfesten und anderen denkwürdigen Anlässen Erinnerungsbilder aufzunehmen, die dann sorgfältig in Alben geklebt oder lose, in zufälligen Behältnissen wie Schuhkartons, verwahrt wurden. Auch die beiden Knipserfotos, von denen hier die Rede ist, sind Erinnerungsbilder, allerdings entstanden sie in einem anderen Zusammenhang als die herkömmlichen Schnappschüsse privater Fotografen, die meist ein unschuldiger Blick auszeichnet. Die Fotos wurden, laut Beschreibung auf der Rückseite, im März 1941 aufgenommen, in der Kleinstadt Zamosc im Südosten Polens. Der westliche Teil Polens war seit dem September 1939 von den Deutschen besetzt, ein breiter Streifen im Osten der Sowjetunion, von Zamosc war es nicht weit bis zur Demarkationslinie, die Deutsche und Russen voneinander trennte.

Jüdinnen bei Erdarbeiten

Der Name des Fotografen ist unbekannt, mit grosser Wahrscheinlichkeit war er Angehöriger der deutschen Wehrmacht oder einer anderen Formation. Beide Fotos zeigen jeweils zwei junge Frauen oder Mädchen, die mit Schaufeln in einem Graben stehen. Auf der hochformatigen Aufnahme sieht man, wie das eine Mädchen, es erscheint zart, ja schmächtig, gerade eine Ladung Erde aus der Grube wirft, während die Kollegin in der Arbeit innehält. Vielleicht, weil der Graben so eng ist, dass immer nur eine schaufeln kann? Beide sehen den Fotografen an, der ausserhalb der Grube steht und sie aus dieser überhöhten Position aufnimmt.

Die eine der beiden jungen Frauen ist auch auf dem zweiten Foto zu sehen, mit einer anderen, die etwas älter zu sein scheint. Insgesamt sehen wir auf den beiden Aufnahmen also drei Personen, die Menschen im Hintergrund, ausserhalb der Grube, von denen bloss die Füsse auszumachen sind, nicht mitgerechnet.

Das Foto kann man hier im Internetauftritt der NZZ sehen.

Die Fotografien sind auf der Rückseite beschriftet: «Jüdinnen bei Erdarbeiten, März 1941 in Zamosc» steht da mit Bleistift geschrieben. Tatsächlich trägt das schmächtige Mädchen am rechten Arm, deutlich sichtbar, eine weisse Binde, wie sie laut Erlass vom 23. November 1939 von Hans Frank, Chef des sogenannten Generalgouvernements, alle Juden in den besetzten polnischen Gebieten tragen mussten. Der Davidstern, in der Verordnung «Zionsstern» genannt, auf dem weissen Streifen ist auf der Foto nicht zu erkennen. Die anderen Frauen tragen keine Armbinden, vielleicht haben sie die mit der Oberbekleidung abgelegt.

Als ich die Fotografien zum ersten Mal betrachtete, erschrak ich: Die Ausschachtung, in der die Frauen stehen, hat ungefähr die Ausmasse einer Totengrube – wurden sie aufgenommen, während sie ihr eigenes Grab schaufelten, kurz vor dem Erschiessen? Ihr Gesichtsausdruck widerlegt diese Vermutung, sie wirken nicht verängstigt, scheinen dem Fotografen sogar zuzulächeln. Die Beschreibung auf der Rückseite der Aufnahmen stammt wohl vom Fotografen, der vermutlich in Zamosc stationiert war und die Frauen bei der Zwangsarbeit knipste. Mit Verordnung vom 26. Oktober 1939 wurde für alle im Generalgouvernement ansässigen Juden vom vollendeten 14. bis zum vollendeten 60. Lebens-jahr der Arbeitszwang eingeführt. «Die Juden werden zu diesem Zwecke in Zwangsarbeitertrupps zusammengefasst.»

Der Arbeitszwang galt zunächst für männliche Juden, doch auch Frauen wurden, nach Gutdünken örtlicher Befehlshaber, dafür herangezogen, auch für harte körperliche Arbeit. 1939 hatte Zamosc, im ausgehenden 16. Jahrhundert von italienischen Architekten nach dem Vorbild von Padua erbaut, knapp 30 000 Einwohner, von denen über vierzig Prozent Juden waren. Viele wurden von den Deutschen ab Sommer 1940 in Arbeitslagern in und um Zamosc zusammengetrieben, um Schanzarbeiten zu verrichten. Gut möglich, dass die Frauen, die wir auf den Fotos sehen, Schützengräben ausheben.

Wer die Frauen sind, weiss ich nicht, und das wird sich auch kaum mehr feststellen lassen. Auch über die Beweggründe des Fotografen, die wenig aufregende Szene zu knipsen, lässt sich nur spekulieren. Möglicherweise war er ein Bewacher, und es machte ihm Spass, in sauberer Uniform untätig am Rand der Grube zu stehen und die jungen Frauen, vielleicht gleich alt wie er, zu fotografieren, wie sie schwere, für sie ungewohnte Arbeit verrichteten? Eine Form der Erniedrigung, ein Beweis seiner Macht über die «Jüdinnen», den er im Bild festhält, um sich später, wieder zu Hause, im Kreis seiner Lieben oder am Stammtisch, diesen Moment des Triumphes besser in Erinnerung rufen zu können
und auch die anderen, die nicht dabei waren, daran teilhaben zu lassen.

Vielleicht genoss er es auch, dass ihm die «Jüdinnen», während sie im Dreck schufteten, auch noch zulächelten, obwohl ihre Lage alles andere als angenehm war und sie allen Grund hatten, ihn zu verachten. Doch das durften sie nicht zeigen, denn sie waren vogelfrei, er konnte sie niederschiessen, einfach so, ohne befürchten zu müssen, dafür bestraft zu werden.

Und danach?

Auch über das weitere Schicksal der Frauen können wir nur düstere Mutmassungen anstellen. Anfang 1942 begannen die Deutschen damit, die jüdische Bevölkerung des Bezirkes Zamosc ins nahe Vernichtungslager Belzec zu deportieren. Am 11. April 1942 wurde das Ghetto von Zamosc von Polizei und SS umstellt, rund 3000 Juden wurden in Viehwaggons getrieben und nach Belzec geschickt, Hunderte wurden im Verlauf der Aktion im Ghetto erschossen. Weitere «Aktionen» folgten. Die letzten in Zamosc verbliebenen Juden wurden von den Nazis im März 1943 ermordet. Es ist nicht anzunehmen, dass die drei jungen Frauen diesem Schicksal entgingen.

Überdauert haben nur die Fotografien. Vielleicht in einem Schuh-karton, unter anderen Aufnahmen aus dem Zweiten Weltkrieg. Auf die zwei Fotos bin ich durch Zufall bei Ebay gestossen, sie wurden angeboten von einem kommerziellen Händler, der noch zahlreiche weitere Kriegsfotos im Angebot hat, typische Knipserbilder deutscher Soldaten: vom Einmarsch in Polen, in Russland, in Frankreich, zerstörte Häuser, rauchende Ruinen, Menschen auf der Flucht, Militär-gerät jeglicher Art, Panzer, Geschütze, Flugzeuge, fröhlich in einem Fluss planschende nackte Landser?

Eigentlich war ich auf der Suche nach alten Fotografien aus Galizien, doch dann erregten die Wehrmachtsfotos meine Aufmerksamkeit. Die Vielzahl der angebotenen Bilder, die gezeigten Motive. Die zwei Fotos mit den Zwangsarbeit leistenden jungen jüdischen Frauen wurden mir schliesslich zugeschlagen, für 28 Euro 50. Ich hatte mitgeboten, um herauszufinden, wie diese Auktionen funktionieren und welche Preise für so etwas bezahlt werden. Um das zu erfahren, muss man sich selber als Bieter registrieren lassen.
Aus Schachteln und Schubladen

Es gibt zahlreiche Händler, aber auch Privatpersonen, die Soldatenfotos übers Internet verkaufen, in Deutschland, in Österreich, in den Niederlanden und anderswo. Die bei Internetauktionen garantierte Anonymität spielt dabei sicherlich eine Rolle. Jedenfalls scheint ein riesiger Markt für solche Bilder zu existieren – und ein schier unerschöpfliches Angebot. Dass deutsche Soldaten im Zweiten Weltkrieg massenhaft fotografierten, ist bekannt, doch die meisten Bilder befanden sich bisher im Besitz von Privatpersonen, Nachkommen der ursprünglichen Eigentümer, die oft die Fotografen waren.

Jahrzehntelang wurden die Bilder nicht gern gezeigt, vielleicht aus Scham oder auch aus Angst vor Verfolgung und Strafe. Denn neben Sehenswürdigkeiten und Kameraden, Kriegsgerät und Kriegsschauplätzen knipsten die Landser auch Verbrechen, Szenen der Gewalt und Erniedrigung von Menschen, die sie als «Gegner» betrachteten, voran Juden und Zigeunern. Gerade solche Bilder wurden lange Zeit weggesperrt. Doch nun werden sie hervorgeholt aus Schachteln und Schubladen, werden aus Alben gelöst und zu Geld gemacht. Von den Kindern und Enkelkindern, die keine Strafe mehr befürchten müssen. Und die offenbar auch keine Scham mehr empfinden. Sie waren ja nicht dabei. Sie haben davon nichts gewusst. Sie wissen nur, dass diese Fotografien hohe Preise erzielen, sehr hohe sogar.

Ein Schnappschuss von vier jüdischen Männern, abgerissen gekleidet, an einer Mauer lehnend, angeblich in Lublin, Format 10×7 cm («Juden in Lublin, Polen, orig. WK . 2, guter Zustand» lautet die Bildbeschreibung bei Ebay), wurde vor kurzem für 277 Euro verkauft, eine andere Foto aus derselben Serie, «Juden im Ghetto Lublin», 8,6×6 cm, brachte 158 Euro, obwohl die Aufnahme teilweise unscharf ist und nicht viel mehr zeigt als ein paar Männer, erbärmlich gekleidet, einer, halb von einem Kind verdeckt, trägt eine weisse Armbinde. Auf dem eingescannten Bild hat der Verkäufer eigens einen auf die Armbinde zeigenden Pfeil eingezeichnet, als Beweis, dass wir hier wirklich Juden sehen. Juden im Ghetto, unter der Naziherrschaft. Solche Pfeile findet man auf vielen Fotos, die im Internet angeboten werden.
Nicht nur «jüdische Fotografien» aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges erzielen bei Ebay Spitzenpreise. Dasselbe gilt
für Fotos anderer Opfer, voran Roma und Sinti, wobei die oft noch zu Objekten sexueller Schaulust erniedrigt werden, damals wie heute. Diese Interpretation drängt sich auf bei einem Schnappschuss, der eine Gruppe Zigeunermädchen zeigt, mit entblösstem Oberkörper, einige lachen, andere schauen ernst in die Kamera. Wir wissen nicht, warum sie halbnackt sind. Hat ihnen der Fotograf befohlen, sich zu entkleiden? Sollen sie ärztlich untersucht werden, mitten im Freien? «Orig. Foto Zigeuner Mädchen Akt Ungarn» lautet die kryptische Bezeichnung, unter der die Aufnahme im Dezember 2008 versteigert wurde. Auf der Rückseite steht, mit Tinte geschrieben: «Ungarische Zigeuner, April 1941». Die Aufnahme wurde für 251 Euro verkauft. Insgesamt gab es 30 Gebote.

Eine ähnliche Aufnahme, vielleicht vom selben Fotografen, gelangte zehn Tage später zur Versteigerung, diesmal unter der Bezeichnung: «Sinti Roma Zigeuner Balkan Akt!». Auch dieses Bild zeigt Mädchen mit entblösstem Oberkörper,
im Hintergrund ist auch ein Mann in Unterhosen zu sehen, offenbar ein Leidensgenosse. Auf dieser Foto sieht man allerdings nur drei halbnackte Mädchen, was vielleicht den niedrigeren Endpreis erklärt: 201 Euro 60.

Die Texte, unter denen die Bilder bei Ebay angeboten werden, sind entlarvend. Die Verkäufer kennen keine Hemmungen, keine Scham, da herrscht oft ein Ton männerbündlerischer Frauenverachtung. «Zigeuner Frau hängt Brust raus für Zigarette in Sadova» – unter diesem Titel wurde im Dezember ein Schnappschuss versteigert, der eine ältere Frau mit offener Bluse zeigt, eine Zigarette im Mund, umringt von Kindern und Soldaten in deutscher Uniform, die in die Kamera feixen. Sie haben ihre Hetz mit der Frau, die nicht zu wissen scheint, wie ihr geschieht.

Wer sind die Käufer bzw. Sammler solcher Bilder? Öffentliche Sammlungen und Museen kommen dafür kaum in Frage, die können nicht solche Preise für private Schnappschüsse bezahlen. Einzelne Fotografien, aus dem ursprünglichen Zusammenhang gerissen, wie das bei solchen Auktionen in der Regel der Fall ist, sind für historische Sammlungen,
so habe ich mir von Experten sagen lassen, faktisch wertlos. Bleiben private Sammler. Aber was treibt die an, Fotografien von anonymen Menschen zusammenzutragen, von denen sie eigentlich nur wissen oder jedenfalls annehmen können, dass sie kurz nachdem die Aufnahmen entstanden waren, gefoltert, vielleicht ermordet wurden? Macht das den Reiz dieser Bilder aus? Ist das der Kitzel, der die absurden Preise erklärt, die solche Schnappschüsse erzielen? Irgendwie drängt sich der Verdacht auf, dass wir uns hier in einen düsteren Bereich der menschlichen Lust und Begierde vortasten, der vielleicht auch dem Erfolg von Jonathan Littells blutschwangerem SS -Epos zugrunde liegt.

Teil der He rabwürdigung

Die auf den Fotografien gezeigten Juden und Zigeuner konnten sich nicht dagegen wehren, von den Tätern fotografiert zu werden. Sie mussten das, manchmal lächelnd sogar, hinnehmen, das war ein Teil der Herabwürdigung. Doch die Vorstellung, dass nun die Nachkommen der Täter mit diesen Aufnahmen Geschäfte machen, ist beklemmend. Kommt das nicht einer nochmaligen Erniedrigung, ja Verhöhnung der Opfer gleich?

Verbrechen und Greueltaten waren nicht nur im Zweiten Weltkrieg gesuchte Motive uniformierter Fotografen. Einschlägige Bilder gibt es auch aus dem Ersten Weltkrieg, ja aus allen bewaffneten Konflikten, in denen Fotografen zugegen waren, Reporter wie Amateure, die meist aktiv am Geschehen teilnahmen. Solche fotografischen Dokumente kennen wir von den zahllosen blutigen Konflikten in Afrika und Lateinamerika, aus dem Vietnamkrieg, dem Krieg in Tschetschenien, dem Afghanistankrieg, dem Krieg im Irak.

Gibt es für alle diese Fotografien, es müssen zahllose sein, private Sammler, die durchs Internet surfen, stets
auf der Suche nach neuen Bildern von Brutalität und Gemeinheit? Keine angenehme, doch vermutlich eine
realistische Vorstellung.

Martin Pollack
erschienen in NZZ online, 26. Januar 2009

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